„Ich wette: Niemand merkt den Unterschied“

Gespräch mit Joachim C. Martini über ein Händel-Oratorium von J. C. Smith jun. und die Junge Kantorei

Immer zu Pfingsten, wenn der Frankfurter Chorleiter und Musikforscher Joachim C. Martini und seine Junge Kantorei nach Kloster Eberbach ziehen, haben sie ein großes Oratorium dabei. Die letzten Jahre waren es Händel-Werke, die sie in hervorragender Qualität musizierten, begleitet vom deutsch-holländischen Originalinstrumente-Ensemble „Barockorchester Frankfurt“. Für dieses Jahr hat Martini einen besonderen Fund vorbereitet, selbst ediert und für die erste Wiederaufführung seit 1764 einstudiert: Das Oratorium „Nabal“, das der Händel-Freund John Christopher Smith jr. fünf Jahre nach Händels Tod aus dessen Musik zusammensetzte. Mit Joachim C. Martini, der in einem Pariser Bibliothekskatalog auf diese Rarität stieß, sprach FR-Mitarbeiter Stefan Schickhaus.

FR: Schubert hat keine Operette geschrieben, und doch gibt es eine mit seiner Musik: „Das Dreimäderlhaus“ – ein nicht sehr hoch angesehener Bastard der Musikgeschichte. Händel nun hat kein Oratorium namens „Nabal“ komponiert, Mr. Smith hat ihm diese Arbeit abgenommen. Gibt es einen essentiellen Unterschied zwischen diesen beiden Ansätzen?

Martini: Schubert hatte in einer Zeit gelebt, als das musikalische Selbstverständnis ein anderes war. Das Phänomen des Pasticcio, womit wir es hier zu tun haben, aber hat zur Händel-Zeit und noch weit in das 18. Jahrhundert hinein die Musikgeschichte ein Stück weit bestimmt. Bei dieser enormen Menge an Opern und Oratorien, die da produziert wurden, waren Anleihen nach verschiedenen Seiten gang und gäbe, auch Händel und Bach haben so gearbeitet. In kaum einer Oper hat Händel nicht auf früher komponierte Arien zurückgegriffen, und man kann beobachten, wie sich mit jedem neuen Einsatz die Textur etwas verändert. Manche davon umspannen sein Leben und Werk geradezu wie ein Leitmotiv.

Wer als durchschnittlich erfahrener Hörer jetzt ihr Pfingstkonzert besucht: Kann er zwischen einem originalen Händel und einem von Smith nachgebauten Händel unterscheiden?

Nein, das glaube ich nicht. Dieser John Christopher Smith der Jüngere hatte das Händel-Werk gekannt wie kein anderer. Er hat von seinem Vater sämtliche Partituren geerbt, hat zur Zeit von Händels beginnender Blindheit ihm als Assistent gedient und ihm das Dirigieren der Konzerte später ganz abgenommen. Er war wohl Englands berühmtester Dirigent, seine Übersicht über das Händel-Werk muss unglaublich gewesen sein! Und mir selbst ist noch nie passiert, dass mich jetzt, als wir diesen Nabal erarbeitet haben, die Sopran-Solistin anruft und sagt, das sei ja eine fantastische Musik, und gleich darauf der Tenor, der meint, diese Musik sei die reinste Freude. Ich will damit nicht sagen, dass dieses Oratorium besser sei als die von Händel selbst, aber es ist enorm konzentriert.

Ist Händels Musik oder generell die der Barockzeit so beliebig, dass man sie verlustlos über jeden neuen Kontext stülpen kann?

Das stimmt nur bedingt. Die Pasticcio- oder Parodie-Technik, wie man diese Wiederverwertung nennt, klappt nur dann, wenn der Affekt – also Hass, Lebenslust, Rache, Verzweiflung – übereinstimmt. Dann allerdings waren die Arien und die Texte weitgehend austauschbar.

Was hat denn Smith noch als zusätzliche Qualität mit eingebracht?

Was den Konzertgänger von heute an Händel oft stört sind die Da capi. Händels Opernästhetik fußt in Italien, dort liebte man die Da-capo-Form der Arien, wo die Sänger bei den Wiederholungen richtig glänzen konnten. Für John Christopher Smith nun hemmen die Da capi den dramaturgischen Ablauf, er lässt sie vielfach weg – was eben dem heutigen Hörer entgegenkommen dürfte. Mit diesem Schritt entfernt sich übrigens das Oratorium deutlich von der Oper, das kann man hier sehr gut sehen.

Smith bediente sich im Händel-Werkkatalog, um geeignete Arien und Chöre zu finden. Wie verhält es sich aber mit den Bindegliedern, den Rezitativen?

Rezitative und Accompagnati stammen von Smith selbst. Aber auch hier möchte ich wetten, dass niemand den Unterschied merken wird. Am ehesten vielleicht bei den Accompagnati, die stellenweise doch schon etwas nach Frühklassik klingen.

Ihr holländischer Kollege Ton Koopman ist mit seiner Rekonstruktion von Bachs Markus-Passion kürzlich ähnlich vorgegangen: Arien und Chöre aus Bach-Kantaten genommen, die Rezitative selbst komponiert, im Bach-Stil. Würde Sie so etwas nicht auch reizen, gewissermaßen Rekonstruktion als Kreativprozess?

Ach, ich weiß nicht. Bis zum Ende meiner musikalischen Laufbahn habe ich sicher noch mit Händel zu tun, wobei man bei den Editionen durchaus auch kreativ sein muss. Daneben läuft noch die Konzertreihe „Auf der Suche nach dem verlorenen Klang“, in der in zwei Jahren auch südamerikanische Barockmusik ansteht – schließlich bin ich ja in Chile geboren.

Seit die Mitschnitte der Pfingstkonzerte bei Naxos auf CD erscheinen, sind Junge Kantorei und Frankfurter Barockorchester zum überregionalen Begriff geworden. Beim Orchester jedoch hat man den Eindruck, es existiert nur einmal im Jahr, eben zu Pfingsten.

So lange wir keine Aufträge von zweiter und dritter Seite haben, kommen wir in dieser Besetzungsstärke nur einmal im Jahr zusammen.

Hat Frankfurt nicht genug Potenzial, um ein zweites Originalinstrumente-Orchester zu beschäftigen neben „La Stagione“, die es selbst nicht einfach haben hier in der Stadt?

Mag sein, dass das in anderen Städten leichter wäre. Ich hätte durchaus einige Ideen, was ich mit diesem Orchester realisieren würde, etwa frühbarocke Opern vor und bis Händel, das dann aber auch regelmäßig. Nicht auf der Bühne, sondern mit einem Ballett, die Sänger singen konzertant. Das wäre mein Traum.

Ihre Pfingstkonzerte sind in Kloster Eberbach, nicht in Frankfurt. Warum weichen Sie in den Rheingau aus?

Kloster Eberbach hat einfach eine unvergleichliche Atmosphäre. Und es gibt Traditionen, die man nicht ohne Not verändern sollte. Wir haben ein Publikum, das schätzt, wie wir es machen. Und die scheuen dann auch nicht den weiten Weg. Aber wenn man in Frankfurt einen geeigneten Raum finden würde, könnte ich mir gut vorstellen, dann jeweils im Sommer eine kleine Oper zu machen, einen Purcell oder einen Pepusch. Oder einen Händel.

Am Pfingstsonntag um 16 Uhr in Kloster Eberbach: Nabal von Georg Friedrich Händel und John Christopher Smith jr., Mit der Jungen Kantorei und dem Barockorchester Frankfurt unter Joachim C. Martini. Die Solisten sind Maya Boog, Francine van der Heijden, Linda Perillo, Knut Schoch und Stephan MacLeod.

Frankfurter Rundschau, 10. Juni 2000
Interview: Stefan Schickhaus